Das Wunder von Sohl

von Svenja Penzel

Grüne und weiße Nebelschwaden hüllen den Weg ein. Aus der Ferne erklingt ein Martinshorn. Die Zuschauer schauen gebannt hin, die ersten jubeln. Dann kommt es in Sicht, das rote Feuerwehrauto, die Fenster heruntergekurbelt, bunte Pompons der Cheerleader wedeln heraus, der Jubel der Zuschauer wird lauter. Gleich hinter dem Wagen der Cheerleader kommt der Mannschaftsbus angefahren. Heraus steigen die Fußballer, die dieses wichtige Spiel bestreiten wollen. Konzentriert steuern sie auf die Kabinen zu. Das Fernsehen ist schon da, der Kapitän wird interviewt. „Wir sind vollzählig und topfit“, sagt er, „und wir holen das Ding!“ Auch die gegnerische Mannschaft ist ähnlich effektvoll und von lauter Rockmusik begleitet eingetroffen. Auch sie wollen „das Ding“. Um das Ding, die Schale, geht es heuer zum vierten Mal, und das ist ein Riesending, das unsere kleine Welt in Atem hält. Nein, wir sind nicht in Brasilien. Wir sind in einem kleinen Dorf namens Sohl, meiner zweiten Heimat seit 11 Jahren, einem 600-Seelen-Ortsteil des beschaulichen Kurortes Bad Elster. Die Zuschauer stehen dicht gedrängt unter Regenschirmen um den kleinen Bolzplatz neben dem Sohler Naturbad herum, der einmal im Jahr zum Hexenkessel wird. Im Dorf ist seit Wochen die Stimmung gestiegen, Plakate kündigen das „Duell der Giganten“ an, Autos werden geschmückt, Kurzfilme von den Vorbereitungen beider Mannschaften sind auf Youtube zu sehen. Die Mannschaft des Jugendclubs Sohl, die dreimal in Folge gewonnen hat, wähnt sich schon als sicherer Sieger. Doch der Herausforderer, die Mannschaft der Freiwilligen Feuerwehr Sohl, will es diesmal wissen. Für die Medienvertreter gibt es vor dem Spiel noch eine Pressekonferenz. Trainer und Mannschaftskapitäne wissen diese Bühne mit schauspielerischem Talent zu nutzen. Bald laufen die Cheerleader beider Mannschaften auf, in beiden Teams sehe ich bekannte Gesichter, Nachbarinnen, Freundinnen aus dem Dorf. Sie haben ihre Tänze gut einstudiert, sie heizen uns ordentlich ein, das klappt auch bei dem Regen und da stört es auch nicht, dass die Pompons der einen Mannschaft dem Regen nicht standhalten und die Farbe den Tänzerinnen an den Händen herunterläuft. Kaum ist die Nationalhymne verklungen, gibt es kein Halten mehr. Jemand schlägt die große Trommel, Kinder blasen in Vuvuzelas, und ein älterer Fan in die Blechfanfare. Über allem thront der Kameramann des Vogtland Regionalfernsehens und hält alles im Bild fest. Schon bald fällt das erste Tor, die Zuschauer brüllen, das Spiel ist kurz und schnell, zur Halbzeit steht es 3:2 für den Jugendclub. In der zweiten Halbzeit schafft die Feuerwehr den Ausgleich, geht dann in Führung und bleibt es bis zum Ende. Der erste filmische Spielbericht erhält den Titel: "Das Wunder von Sohl".Beim Abpfiff fallen sich die Spieler und Cheerleader des Siegerteams in die Arme, strahlende nasse Gesichter, selbst die Anhänger des Jugendclubs müssen zugeben, dass dieser Sieg verdient war. Die begehrte Schale müssen sie nun hergeben bis zum nächsten Duell der Giganten in einem Jahr. Später wird im Feuerwehrhaus gegrillt und weitergefeiert. Drei Männer des Verliererteams müssen, nur mit Bikinis bekleidet, das Feuerwehrauto waschen, so war es ausgemacht. Unser Nachbar, der Chef der Sohler Feuerwehr, strahlt von einem Ohr bis zum anderen. Er war heute aber auch ein sehr guter Torwart. Als Großstadtkind hätte ich nie gedacht, dass in einem kleinen Dorf so viel los sein kann, solche Stimmung, solche Gefühle, so ein Engagement. Das zeigt sich nicht nur einmal im Jahr auf dem Bolzplatz, sondern auch bei vielen anderen Anlässen vom traditionellen Höhenfeuer über Himmelfahrt bis zum Anschieben der Weihnachtspyramide. Wir haben in Sohl zwar keinen einzigen Laden, keine Kirche, keine Schule und keine Bürgersteige, dafür aber viele tolle Menschen.

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